Zweck oder Mittel?
Warum der Zweck die Mittel nicht heiligt
das Wesentliche mit dem Zweck ist, dass er keine Mittel heiligen darf
Mit dem Zweck ist das so eine Sache. Hat man keinen, arbeitet man ins Blaue hinein; hat man einen, bekommt man mitunter blaue Augen. Denn »der Zweck heiligt« gern mal »die Mittel«. Der Zweck als Joker war nicht nur Machiavellis liebste Spielkarte – nach dem Motto: »Wenn ihn auch die Tat anklagt, so muss ihn doch der Erfolg entschuldigen« (Machiavellis Discorsi, 1531). Er war auch das sprachliche Ass im Ärmel der konservativen Revolution im Polen des 20. Jahrhunderts. Und er bleibt ein heiliges Mittel in vielen Kinderzimmern, wo es manchmal heißt: »Natürlich ist das eine sehr harte Strafe. Aber wenn du das nicht lernst, wirst du es später schwer haben.«
Zweck & Tiefe.
Was bleibt also? Ein Ziel kommt immer als Januskopf, mit zwei Gesichtern. – Das eine Gesicht ist aus Holz, es ist stabil, Stabilität ist gut. Sie ist einschätzbar. Denn alle Antworten scheinen sichtbar: an der Oberfläche. Dafür muss niemand Verantwortung übernehmen. Das andere Gesicht ist ein Wollknäuel,. Seine Oberfläche ist instabil. Aalles weist in die Tiefe. In ein noch verborgenes Netz von Fragen und Beziehungen: Wer übernimmt dafür die Verantwortung für später?
Das Dilemma der zwei? Entweder arbeitet man mit dem vordergründigen Holzgesicht, aber oberflächlich und verantwortungslos. Oder man arbeitet mit dem Wollknäuel verantwortungsvoll, aber tiefgründig komplex. Was bleibt? Ohne beide Gesichter des Zwecks arbeiten wir ins Blaue hinein. – MIt dem Gesicht aus Holz handeln wir nicht: wir verhalten uns automatisch, gesteuert vom »Jetzt« & »Hier«. Mit dem Wollknäuel handeln wir bewusst und nachhaltig ins Morgen, verstehen das Ganze aber nicht vollends. – Verantwortungsvoll kommt ein Zweck also nur als hölzernes Wollknäuel. Als Netz, das die vier Achsen Vorne, Hinten, Vergangenheit, Zukunft mit Tiefe verbindet.
Zweck & Zeit.
»Zweck als Heiligsprechung der Mittel« entspringt der Frage nach dem »Warum«: »Warum tue ich ...?«. Was zur Frage führt: »Warum verhalte ich mich so?«. »Warum« fragt nach dem Jetzt aus der Vergangenheit. – »Zweck als Mittel zur Umsicht« fragt mit »Wofür« von der Gegenwart in die Zukunft: »Wofür tue ich ...?« Was zu der Frage führt: »Können wir unser Handeln auch morgen noch verantworten?«. »Wofür« fragt ins Morgen.
»Zweck & Wahrheit«
Was beide Fragen - »Warum?« und »Wozu?« gemein ist: Beide finden ihre Antwort nur, wenn wir einen Wahrheitsanspruch erheben. So spricht der hölzerne Zweck: »Weil dies der(!) Wahrheit entspricht, verhalten wir uns so und nicht anders.« Und das Wollknäuel: »Weil dies einer Wahrheit entsprechen könnte, entscheiden wir uns, so zu handeln.«
Wahrheit ist nicht der einfachste Anspruch. Sie steht und fällt mit der Perspektive, aus der wir die Dinge heute betrachten. – Nehmen wir ein Bild des französischen Psychologen Théodule Ribot: »Ein und dasselbe Pferd erscheint dem Jockey anders als dem Tierarzt und beiden anders als dem Maler oder dem jungen Soldaten.« (L‘Evolution des idées générales.Paris: Études, 1897) – Ein Bild, von dem jeder unvoreingenommene Verkehrspolizist ein Lied singen kann. Wenn er die beiden Wahrheiten derer aufnimmt, die ihre Autos auf der Kreuzung in die Blechlawine gelenkt haben. Und ja, beide Wahrheiten. Denn nur wenige lügen hier. Jeder sagt seine Wahrheit aus seiner individuellen Perspektive und seinem individuellen Zweck. Kein Bild zeigt uns deutlicher, wie sehr Zweck und Wahrheit zusammenhängen. Wie individuell »richtig« Wahrheiten sein können. Ein Bild, das den Mathematiker Max Born zu dem Satz inspirierte: »Wahrheit ist (unter Umständen) der zweckmäßigste Irrtum.« Ein Bild, das wir auch umgekehrt betrachten sollten: »Zweck ist (unter Umständen) die irrtümlichste Wahrheit«.
Denn es ist nicht nur so, dass unser Zweck einer Wahrheit dienen soll. Unsere Wahrheit neigt auch dazu, unserem Zweck zu dienen. Denn: »Jede Zwecktätigkeit äußert sich darin, dass sie die Mittel aufspürt, beschafft oder hervorbringt, die zur Erreichung des gesetzten Zwecks notwendig und dienlich sind.« (Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob) – Haben wir erst einmal einen Zweck, wenden wir Begriffe so lange hin und her, bis dieser Zweck zur »Wahrheit« wird. Die Frage nach der Verantwortbarkeit eines Zwecks beantwortet sich also vor allem in der bewussten Trennung der unvermeidlichen Selbstbezüglichkeit von Zweck <=>Wahrheit. – Wo finden wir diese Trennung? In den Positionen, von denen aus wir die Situation betrachten und die Aufgabe angehen. Eine dieser Positionen: unsere Disziplin(en).
Zweck & Disziplin
Was für den Jockey, den Tierarzt, den Maler und den Soldaten das Pferd ist; was für den Autofahrer, den Radfahrer, den Stadtrat und den Architekten die Stadt ist; was für die »Marke«, den Kaufmann, den Versicherungsvertreter und den Innenarchitekten das Geschäft ist; was für die Marketingabteilung, die Presse, den Unternehmer und den Kommunikationsdesigner die »Botschaft« ist? – Unterschiedliche Disziplinen = Unterschiedliche Positionen = Unterschiedliche Zielfokussierung = Unterschiedliche Bewertung = Unterschiedliche »Wahrheiten«.
Das Ziel jeder Disziplin beginnt mit einem begrenzten Fokus. Das können wir nicht ändern. Sollten wir auch nicht, denn das ist und bleibt die Stärke jeder Disziplin. Ohne eingeschränkten Fokus gäbe es weder Disziplinen noch Experten. »Engstirnigkeit« ist und bleibt die Schwäche jeder disziplinären Stärke. – Und »Gott sei Dank! Sonst könnte irgendwie jeder alles und keiner etwas besonders gut.«
Wen dieser Gedanke nicht stört, den stört auch nicht eine Welt, in der Überraschungen ausschließlich dem Zufall unterliegen und daher sehr, sehr selten sind: wenn überhaupt. Man wird zum Geburtstag überrascht, wenn jemand besonders gut zugehört hat; man wird von Kunst & Musik überrascht, weil jemand eine besondere Begabung hat; man wird beim Durchfahren einer Stadt überrascht, weil jemand besonders umsichtig geplant hat; man wird in diesem Gebäude überrascht, weil jemand besonders gut Material, Technik, Raum & Mensch zu verbinden wusste, ... Und wie das so ist: Je »mehr besonders gut« wir in dies werden, desto »weniger besonders gut« werden wir in allem anderen. Schon deshalb, weil wir uns mit diesem am häufigsten und innigsten beschäftigen.
Und jetzt? Bleibt also der Experte der Holzkopf und der Rest Dilettanten? – Ja. – Und wir können diese Schwäche als Stärke nutzen. Wenn wir unseren Prozess auf der Suche nach dem Zweck konstruktiv stören. Je mehr Holzköpfe mit unterschiedlichen Perspektiven, also unterschiedlichen Disziplinen, am Prozess beteiligt sind, desto umfassender wird das Zweck-Gehölz. Ein Wald als Denk- und Prozessraum, in dem wir »den Wald vor lauter Bäumen erst einmal nicht sehen«: zumindest zu Beginn unserer Suche. Wo wir vor lauter »Grün« die einzelnen Holzstämme nicht sehen. Wie in unserem Wollknäuel. Eine instabile (grüne) Oberfläche, von der aus alles in die Tiefe weist. Eine transdisziplinäre Flora & Fauna, in der das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Ein Wald,den wir nicht (nur) aus der Perspektive von Pilzsucherinnen, Försterinnen, Kindern, Joggerinnen, Biologinnen, ... betrachten, sondern aus der gemeinsamen Perspektive aller: inklusive der Verbindung des Waldes mit Umwelt & Zukunft.
Was uns hier stört, sind nicht so sehr die verschiedenen Disziplinen, sondern die Werte, die jede mitbringt und anwendet. Denn unterschiedliche Menschen & Disziplinen finden in der gleichen Situation eben deshalb unterschiedliche Probleme & Lösungen, weil sie mit unterschiedlichen Werten schauen. Und: ohne Werte keine Probleme. Denn wer keine Werte mitbringt, hat nichts, was es anzustreben oder zu vermeiden gilt. Ohne Werte gibt es kein »Wofür« und kein Handlungsbedarf. Kurz: So wie sich Zweck mit Wahrheit, Wahrheit mit Perspektive und Perspektive mit Disziplin verbindet – so verbindet sich Disziplin mit Werten und Werte mit Verantwortung.
Zweck & Werte
»Wir glauben, dass es wahr ist«, und diese Wahrheit rechtfertigt unseren Zweck. Der von Max Born angesprochene Fehler könnte nun darin liegen, dass unser Zweck weder der Zukunft noch einer Umwelt verpflichtet ist, sondern nur unserer subjektiven Position oder disziplinären Betrachtungsperspektive: die ihre Wahrheit für sich beansprucht. Nun ist es aber genau diese Verknüpfung von sich gegenseitig störenden, weil unterschiedlichen Werten, die unser Ziel entschärfen kann: und damit unsere Mittel entheiligt: zu Perspektiven.
Zweck & Notwendigkeit
D.h. ein Ziel ist keine ab initio Antwort auf die Fragen »wofür«, »wohin«, »warum«, »wogegen« (ja, auch ohne »wogegen« gibt es keine Werte). Es ist eine Aufforderung zum Fragen und zur Vorsicht. Ein Ziel ist stark und mächtig, weil es gefährlich ist: wie alles, was im Leben stark und mächtig ist. Aber es ist notwendig, denn sonst tun wir gar nichts. Wofür auch?
Aber auch wenn ein Ziel notwendig ist, ist es nicht hinreichend. Die Tragweite dieser Unterscheidung zwischen »notwendig« und »hinreichend« wird kaum deutlicher als in den Worten des Münchner Hirnforschers Ernst Pöppel: »Was man lernen muss, ist, zwischen notwendig und hinreichend zu unterscheiden. Vernetzung, also ein Gespräch herzustellen, das ist notwendig (Ursache). Aber es ist nicht hinreichend, um den Inhalt zu ermöglichen (Wirkung).« - Eine Unterscheidung, die auch den französischen Psychologen Mony Elkaïm beschäftigte: »Wie dem auch sei, für mich ist Geschichte weder linear noch determinierend [...] Historische Faktoren sind notwendig, um ein aktuelles Problem zu erklären, aber sie sind nicht hinreichend.« (Mony Elkaïm: Si tu m’aimes, ne n’aime pa)
Zweck & Nachhaltigkeit
Um sich sorgfältig und gewissenhaft um und mit einem Ziel zu bewegen, reicht es also nicht aus, es zu haben. Wir müssen es auch verantworten können. Und das können wir nur, wenn wir uns aus unserer Perspektive herausbewegen, aus der Umgebung unserer persönlichen Komfortzone und unserer Ambitionen als Individuum, als Gruppe, als Verein oder als Disziplin. In die Auswirkungen nicht nur von morgen hinein, sondern auch von übermorgen. »... denn wir kennen noch nicht die Auswirkungen unserer Erfindungen von morgen.« (Karl Popper)
Nachhaltigkeit kann man nicht wörtlich nehmen: »Dass nachher noch gilt, was vorher galt«. Nachhaltigkeit beginnt nicht vorne, im Hier und Jetzt. Sie maßt sich an, hinten anzufangen, mit der Potenz des Irrtums. Genau diese Potenz (Macht) müssen und wollen wir verantworten. Das können wir umso gewissenhafter, je mehr Perspektiven und Werte wir kultivieren, um Zweck & Wahrheit zu finden und Mittel zu hinterfragen.
Die Frage ist also nicht, ob der Zweck die Mittel heiligt oder nicht. Die Frage ist: »Welchen Mitteln und welchen Werten folgend haben wir unseren Zweck gefunden und können wir das Ergebnis unserer Suche auch übermorgen noch verantworten«. – Zwei Sicherheitsgurte auf dem Weg zu dieser Verantwortbarkeit des Zwecks scheinen klar: interdisziplinärer Prozess - Transdisziplinarität und projektunabhängige Werte in Bezug auf Mensch, Tier, Umwelt und »übermorgen«.